Mal ganz grundsätzlich: Räume eng machen, Spiel breit machen, hinten dicht machen, vorne drauf gehen: Woran soll man denn heute noch glauben, Herr Loy?
Okay, grundsätzlich gilt festzuhalten, dass es über die Auswirkungen taktischen Verhaltens und des Erfolgs einzelner Spielhandlungen auf den Spielerfolg als solchen so gut wie überhaupt keine Erkenntnisse gibt. Ich betone gerne noch einmal, dass es tausende verschiedener Faktoren gibt, die die Leistungen und den Erfolg im Fußballspiel beeinflussen, doch wir wissen nicht ansatzweise, in welcher Form dies geschieht. Dennoch gibt es Heerscharen von Trainern, Spielern oder Managern, die sich hinstellen und irgendetwas behaupten, ohne zu wissen, ob es richtig oder falsch ist.
Klingt aber immer super. Wenn mir jemand sagt „Komm mehr über Außen“, denke ich, dass da ganz viel Weisheit hinter steckt, fange innerlich an zu jubeln und gehorche wie ein Schüler seinem Meister.
Ja, über die Außen spielen, schnell nach vorne spielen, das Mittelfeld überbrücken, bis zur Grundlinie durchgehen…
…Lechz…
…aber da muss man ganz klar sagen, dass es darüber keinerlei abgesicherte Erkenntnisse gibt, und die Wahrscheinlichkeit, dass von solchen Aussagen zumindest 50 Prozent falsch sind, ist sehr hoch. Es wäre also in diesem Kontext ein Zeichen von Seriosität, vor die Kamera zu treten und Aussagen als Vermutungen an Stelle von Behauptungen bzw. sicherem Wissen zu verkaufen. Weiß man doch gar nicht, was richtig ist. Meine Untersuchungen haben zum Beispiel aufgezeigt, dass Angriffe durch die Mitte genau so häufig zum Erfolg führen wie Offensivaktionen über die Flügel. Es gibt so viele Dinge, die gerne als Tatsachen hingestellt werden, obwohl sie nicht im Geringsten abgesichert sind. Schauen Sie, ein wunderschönes Beispiel: Nürnbergs Trainer Hans Meyer wechselt im Pokalspiel gegen Aachen kurz vorm Elfmeterschießen seinen Torwart aus. Auf die anschließende Frage eines Reporters, ob er sich so sicher war, dass Daniel Klewer wieder zum Helden werden würde, antwortete er: In welcher Sache im Fußball können Sie sich eigentlich sicher sein? Eine der schönsten Aussagen, die ich im Fußball in den letzten zwanzig Jahren gehört habe. Wer so etwas sagt, hat erkannt, um was es im Fußball überhaupt geht. Herausragend!
Hat eine gewisse philosophische Tiefe. Ich weiß, dass ich nichts weiß.
Ach, Sokrates.
Guter Spieler.
Nee, ich meine den Griechen. Aber was ich damit unterstreichen will, ist, dass ich mir im Fußball sehnlichst eine Kultur der Zurückhaltung wünschen würde. Im Fußball ist doch, wie bei vielem im Leben, der Zufall federführend. Und dass sich da jemand hinstellt und eben nicht sagt, er wüsste alles, zeugt für mich von wahrer Größe.
Jetzt aber mal was Handfestes: Flanken von der Grundlinie!
Völlig unseriös. Hat Völler damals immer gefordert. Es gibt aber keinerlei Erkenntnisse darüber, wie oft der Ball auf dem Weg dorthin durch misslungene Dribblings oder ungenaues Passspiel verloren geht. Solange man das nicht weiß, kann man auch nicht sagen, ob es rentabel ist, bis zur Grundlinie vorzugehen. Ist ja auch eng da.
Wie wichtig ist denn das „Erarbeiten“ von Standardsituationen?
Na, ja, im Fußball resultieren circa 30 Prozent aller Tore aus Standardsituationen, also ist das sicherlich nicht ganz unerheblich. Man kann aber nicht hundert Stunden am Tag trainieren, sondern vielleicht nur zwei. Da muss man dann Prioritäten setzen. Trainiere ich eine Stunde Standards oder doch mal besser Passspiel, wenn daraus circa 50 Prozent aller Tore entstehen? Auch hier kann keiner wirklich genau sagen, was mehr Sinn macht oder richtig ist. Ich habe aber festgestellt, dass scharf herein gegebene Eckbälle eine höhere Erfolgsquote aufweisen als solche, die mit Schnee auf dem Ball ankommen.
Gewinnt diejenige Mannschaft, die mehr Fouls auf ihrem Konto hat, oder wird Fairness eher mit einem Sieg belohnt?
Mannschaften, die mehr Foul spielen, gewinnen etwas häufiger das Spiel. Aus pädagogischer Sicht ist das natürlich eine ernüchternde Erkenntnis, aber als Gegenbeispiel führe ich gerne die WM 1990 an, bei der Deutschland als eines der fairsten Teams Weltmeister wurde.
Bernd Schuster sagte einmal: „Hier in Spanien wird weniger trainiert als in der Bundesliga. Wenn ich deutsche Elemente – Kondition, Laufen – ins Training einbaue, blasen meine spanischen Spieler.“ Also ist Technik und Spielwitz respektive Spielintelligenz erfolgversprechender als physische Kraft?
Da kann man auch überhaupt nicht sagen, welche Gewichtung sinnvoller ist. Aber wer weiß, vielleicht wäre der FC Getafe noch erfolgreicher, wenn mehr Kondition trainiert werden würde.
Statt Kondition kann man ja auch gemeinsame Kinobesuche trainieren und sich zum Beispiel „Rocky Balboa“ angucken.
Klar, hm, sozialer Faktor. Möglich, dass sich das positiv auswirkt. Aber ob das in eine Erfolgsspur mündet, weiß kein Mensch. Möglich ist schließlich auch, dass es genau so sinnvoll wäre, wenn sich die Spieler in der gleichen Zeit mit etwas anderem beschäftigen würden.
Ist es tatsächlich schwerer, gegen eine Mannschaft in Unterzahl zu spielen?
Ein schönes Beispiel, wie sich die mediale Aufbereitung eines Spiels auf die Wahrnehmung auswirkt. Bei 99 Prozent aller Fußballspiele gilt es als selbstverständlich, dass die Mannschaft in Überzahl gewinnt, aber wenn mal eine Mannschaft in Unterzahl siegreich ist, wird das viel markanter transportiert.
Eine Hochsterilisation.
Genau.
Bei den Fußballweisheiten ganz vorne mit dabei: Die Null muss stehen!
Und jetzt stellen Sie sich mal vor: 34 Bundesliga-Spieltage, Sie spielen an jedem Spieltag unentschieden, sammeln so 34 Punkte und steigen ab. Ein 0:0 reicht da nicht, Sie müssen hin und wieder auch nach vorne spielen und ein Tor erzielen.
Und dafür muss ich dann hinter die Viererkette kommen!
Ja, ja, auch wieder so etwas Sinnfreies. Weiß keiner.
Manndeckung versus Raumdeckung: Was ist sinnvoller?
Da gibt es eine wissenschaftliche Untersuchung aus dem Amateurfußballbereich, die herausgefunden hat, dass Mannschaften, die Raumdeckung praktizieren, weniger Laufarbeit verrichten müssen als solche, die Manndeckung bevorzugen.
Was ist effizienter: 1:1‑Situationen zu suchen oder den Ball schnell weiterzuleiten?
Auch das weiß kein Mensch genau. Cristiano Ronaldo dribbelt vielleicht mal seinen Gegenspieler spektakulär aus, bleibt aber im Gegenzug viermal an ihm hängen. Trotzdem sagen viele, dass der Spieler das Dribbling suchen muss. Dafür gibt es überhaupt keine sicheren Beweise.
Wie eröffnet man denn am besten das Spiel?
Großartig. Sehen Sie, der Fußball ist schon so alt, und es sind schon Unsummen in diesen Sport gepumpt worden, aber es ist ein Dilemma, dass Ihnen keiner eine vernünftige Antwort auf eine der einfachsten Frage geben kann, nämlich ob der Torwart zum Beispiel den Ball weit weg schlagen oder den Nebenmann anspielen soll. Das macht schließlich einen gravierenden Unterschied in der Spielentwicklung aus.
Zum Abschluss: Kann man Erfolg kaufen?
Nun ja, Mannschaften mit mehr Geld stehen tendenziell eher oben, Mannschaften mit wenig Geld eher unten, aber es gibt mittlerweile Untersuchungen, die herausgefunden haben, dass es absoluter Zufall ist, wer Meister wird und wer absteigt, und das finde ich großartig. Es ist trotz allen Geldes eben nicht alles kalkulierbar.
Der FC Bayern München neigt allerdings dazu, sich auffallend häufig um die Meisterschale zu bewerben.
Sicher gibt es da auch hohe Korrelationswerte zwischen Tabellenrang und Finanzstärke. Ist also ein bisschen was dran.
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Das Interview führte Manuel Lippert von „Bolzen“, dem Zentralorgan für Freizeitfußball www.bolzen-online.de .
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