
Der Parkanweiser kann es nicht fassen: Was zum Teufel macht der verdammte Lieferwagen hier? Niemand darf hier fahren! Niemand! Außer Zlatan Ibrahimovic.
„Weg! Weg!“, ruft der Parkanweiser, winkt und fuchtelt. „Weg! Sofort!“ Gleich wird der Megastar von Paris Saint-Germain, der gerade einen Sponsorentermin wahrgenommen hat, in seinem orangefarbenen Lamborghini diesen Straßentunnel hinunterheizen wollen, zurück in seine Hotelsuite, die 3000 Euro pro Nacht kostet, er muss sich ausruhen, von null auf hundert in knapp vier Sekunden. Kein Platz für Lieferwagen! Freie Bahn für Ibrahimovic!
Was, wenn Zlatan Ibrahimovic jetzt nicht durchstarten kann?
„Weg! Sofort!“ Der arme Fahrer, der nur sein Gemüse ausliefern will und offenbar nicht weiß, dass er sich auf einer Startrampe für futuristische Boliden befindet, legt panisch den Rückwärtsgang ein. Doch er kommt nur zehn Meter weit, dann rammt er einen parkenden Mercedes. Die Stoßstange bricht ab, die Alarmanlage heult, dem Parkanweiser, der es doch nur richtig machen wollte, entgleitet alles. Eben noch dem Lieferwagen hinterherhastend, steht er schwer atmend da und schlägt die Hände überm Kopf zusammen. Was, wenn Zlatan Ibrahimovic jetzt nicht durchstarten kann?
Nun sind in Pariser Straßentunneln weiß Gott schon schlimmere Dinge passiert. Und doch ist die Szene eine Metapher für die Hysterie, die dieser „Ibra“ überall auslöst, wo er sich zeigt. Oder soll man sagen: wo er erscheint?
Zehntausende kamen zum Eiffelturm, als er dort im Juli 2012 nach dem Wechsel vom AC Mailand mit dem Trikot von PSG posierte. Eine Epiphanie im Transferfenster. „Géant“, titelte die französische Sportzeitung „L’Equipe“ auf Seite 1 – „Riesig“.
„Qualität hat nun mal ihren Preis.“
Riesig sind auch die Summen, die bei diesem Deal umgesetzt werden: Mit einem Jahresgehalt von 15 Millionen Euro verdient Ibrahimovic in einer Stunde mehr als der Parkanweiser und der Gemüsehändler zusammen im Monat. In einem Radiointerview kritisierte der Haushaltsminister Jérôme Cahuzac das als „unanständig“. Ibrahimovic konterte: „Qualität hat nun mal ihren Preis.“
Seine Großspurigkeit ist längst integraler Bestandteil der Corporate Identity im Unternehmen „Zlatan“. Seit Juniorenzeiten suhlt sich der Schwede in der Rolle des renitenten Arschlochs. Als er noch in Malmö spielte, kam er in die Schlagzeilen, weil er sich in einer Partynacht als verdeckter Ermittler ausgab und Discobesucher auf Drogen filzte. Bei Ajax Amsterdam unterhielt er einen Kleinkrieg mit Rafael van der Vaart, den er für einen Softie hielt („Goldjüngelchen“). Ein Länderspiel gegen die Niederlande nutzte er, um den Kollegen über die Außenlinie zu grätschen, so dass dieser für zwei Ligaspiele außer Gefecht gesetzt war. Als die Presse ihm Vorsatz unterstellte, entschuldigte er sich bei Van der Vaart, allerdings mit dem Hinweis, es habe sich bei seinem Tackling nicht mal um „internationale Härte“ gehandelt. Weil der Niederländer nicht aufhörte, die Angelegenheit zu thematisieren, weigerte Ibrahimovic sich schließlich, mit ihm zusammenzuspielen. Und fachte damit ein Scharmützel mit Ajax-Sportdirektor Louis van Gaal an. Es war der Anfang vom Ende seiner Zeit in Amsterdam.
Die Konfrontation mit allem und jedem scheint Zlatan Ibrahimovic zu beflügeln. Als sei die Auseinandersetzung – wenn es sein muss, auch die körperliche – seine Art, mit dem Leben zurechtzukommen. Er wuchs in Rosengard auf, einer tristen Sozialbausiedlung mit hohem Ausländeranteil in der Peripherie von Malmö. Seine kroatische Mutter heiratete seinen bosnischen Vater nur, damit dieser eine Aufenthaltsgenehmigung erhielt. Die Eltern trennten sich, als Zlatan zwei Jahre alt war. Die Mutter verdiente ihren Lebensunterhalt mit Hehlerei, sie litt unter Verfolgungswahn und Depressionen. Bald übernahm der Vater das Sorgerecht. Doch richtig kümmern konnte auch er sich nicht. Meistens lag er betrunken auf dem Sofa und schaute Filme mit Bruce Lee und Jackie Chan. Die Halbschwester nahm Drogen, der Kühlschrank war immer leer.
Schon der sechsjährige Zlatan verdingte sich als Kleinkrimineller, stahl Fahrräder. Heute sagt er, wenn es für ihn nicht zum Profi gereicht hätte, wäre er wohl ein Ganove geworden. Sein einstiger Schulleiter berichtete unlängst in einem Interview, der Junge habe zu den aufsässigsten Kindern gehört, die er in dreißig Jahren Berufsleben getroffen habe. Das personifizierte Klischee des vernachlässigten Migrantenkindes.
Ibrahimovic lernte früh, dass er beim Lösen seiner Probleme auf sich allein gestellt ist. Als Fußballer agierte er entsprechend eigensinnig. Seine gediegene Technik lernte er auf dem Bolzplatz, wo er anderen Kindern Geld versprach, sollten sie es schaffen, ihm den Ball vom Fuß zu spitzeln. Wusste er doch: Das schafft sowieso keiner. Keinen Satz hörte er damals öfter als: „Spiel ab, Zlatan, spiel ab!“ Die Eltern seiner Mannschaftskameraden forderten seinen Ausschluss aus dem Team. Nicht zuletzt auch deshalb, weil er bei fast jeder Aktion wie ein balkanesischer Bierkutscher fluchte.
Schwestern „von hinten ficken“
Henrik Rydström, Literaturwissenschaftler und Profi beim schwedischen Erstligisten Kalmar FF, erinnert sich, wie er den 1,95-Meter-Schlaks Ende der neunziger Jahre bei einem Hallenturnier erlebte. Gerade 18 Jahre alt geworden, giftete Ibrahimovic jeden an, der ihm in die Quere kam. Wütend palaverte er vor sich hin, wünschte Widersacher in die Hölle und deren Schwestern in sein Schlafzimmer, wo er sie – Zitat – „von hinten ficken“ wolle. „Es ist seine Art, sich zu motivieren. Man darf das alles nicht so ernst nehmen“, sagt Rydström. Er und seine Teamkameraden hätten sich jedenfalls köstlich über das Repertoire an Schimpfwörtern amüsiert, mit dem dieses absonderliche Riesenbaby aus Malmö da aufgelaufen war.
Sein loses Mundwerk hat Ibrahimovic sich bewahrt. Das Gerede dient dazu, sich der eigenen Stärke zu versichern und den Gegner aus dem Konzept zu bringen. Wenn auch nicht ganz auf dessen intellektuellem Niveau, so hat er diese Masche doch seinem großen Idol Muhammad Ali abgeschaut, dessen Kämpfe er als Kind mit seinem Vater oft sah. „Ali hat mich gelehrt, was es heißt, seinen Mann zu stehen“, sagt er, „man selbst zu bleiben – auch gegen Widerstände.“
Obwohl er Mannschaftssportler ist, geht er in der Rolle des einsamen Fighters auf. In seiner Freizeit betreibt er Taekwondo. Das Kampfsporttraining bewahrt ihm trotz seiner Kantigkeit auch jenseits der 30 noch eine erstaunliche Katzenhaftigkeit. Den Ball über dem Kopf mit dem Fuß anzunehmen, ist nur einer von vielen Tricks aus der Zauberkiste von „Ibracadabra“. Darauf, den Gegner auf die Bretter zu schicken, muss er jedoch verzichten. „Manchmal wünschte ich“, erklärt er, „Boxen wäre Teil des Fußballs. So aber muss ich mich zusammenreißen.“
Jeder siebte Schwede hat seine Biografie im Regal stehen
In 15 Profijahren ist der Schwede trotzdem mit so ziemlich jedem Global Player des Fußballs in den Infight gegangen – zumindest den verbalen. Im Dezember 2011 erschien seine Autobiografie „Ich bin Zlatan“. 700.000 Exemplare wurden in seinem Heimatland verkauft, jeder siebte Schwede hat das Buch im Regal. Als Erzähler wechselt Ibrahimovic darin ständig zwischen zwei Rollen: der des bilanzierenden Routiniers und der des jungenhaften Dickschädels, der mit dem Kopf durch die Wand will. Einerseits blickt er mit einem ironischen Schmunzeln auf den Wahnsinn, den er mit seiner Exzentrik im Fußballbiz ständig anzettelt. Andererseits ist er auf seltsame Weise gefangen in diesem Leben, in dem es dauernd um ihn herum knallt. Ein Buch über einen Menschen, der überzeugt ist, nur einer höheren Bestimmung zu folgen: Am Ende der Sieger zu sein.
Wer ihn daran zu hindern versucht, wird abgekanzelt: Louis van Gaal nennt er einen „aufgeblasenen Arsch“, Jonathan Zebina kassierte von ihm „völlig zurecht“ eine Kopfnuss, und Lionel Messi, Andres Iniesta und Xavi sind nur wenig mehr als eine Bande von Strebern. Auch sein Urteil in der Frage, wer gegenwärtig der beste Trainer der Welt sei, fällt eindeutig aus: „Während Mourinho den Raum aufhellt, wenn er ihn betritt, zieht Guardiola die Vorhänge zu.“
Die Biografie langweilt nicht mit Sentimentalitäten. Ein Einzelgänger von der Sorte Ibrahimovics hat sich noch nie Gedanken über Konsequenzen seines Handelns gemacht. Die Frage, ob ihm einige seiner Injurien die Perspektive auf Anschlussjobs im Fußballbusiness nach dem Karriereende verbauen, stellt er sich erst gar nicht. Das Leben ist für ihn ein immerwährender Zweikampf mit wechselnden Gegnern.
Mein Berater, ein Mafioso
Als er vor zehn Jahren einen Berater suchte, schlug ihm ein befreundeter Journalist zwei Alternativen vor. Journalist: „Es gibt diese Agentur, bei der David Beckham ist.“ Ibrahimovic: „Aha, und wer fällt dir sonst noch ein?“ Journalist: „Es gibt da diesen Italiener, der Pavel Nedved managt. Alle sagen, der Mann sei ein Mafioso…“ Ibrahimovic: „Klingt gut, kannst du ein Treffen organisieren?“ Journalist: „Ich habe befürchtet, dass du so reagieren würdest.“
Er begab sich also in die Hände von ebenjenem Carmine „Mino“ Raiola. Der Süditaliener läuft zu Geschäftsterminen gern in T‑Shirt und Dreiviertelhose auf, und wenn er der Überzeugung ist, dass sein Klient ein Vertragsverhältnis beenden sollte, kennt er Mittel und Wege, wie der Verein ihn vorzeitig freigibt. Wie Ibrahimovic bevorzugt auch er den Weg durch die Wand. Beide eint die Vergangenheit als diskriminierte Migrantenkinder. Nach dem Umzug der Eltern aus dem armen Salerno wuchs Raiola im niederländischen Haarlem auf. Im Zuge des italienischen Fußballskandals 2006 wurden Telefonate zwischen Juve-Manager Luciano Moggi und Raiola öffentlich, die deutlich machen, wie er den Wechsel von Amsterdam zu Juventus forcierte: „Morgen bleibt Zlatan den ganzen Tag zu Hause, ich schicke ihn nicht zum Training. Ich habe um 12 Uhr ein Treffen mit den Ajax-Verantwortlichen, komme aber erst um 14 Uhr. Mach dir keine Sorgen, wir bringen ihn nach Turin.“
Am Anfang seiner Laufbahn hatte Ibrahimovic noch auf die Hilfe eines Beraters verzichtet. Malmös Sportdirektor Hasse Borg nahm ihn unter seine Fittiche – und riet ihm von einem Agenten ab. Nicht ohne Hintergedanken: Als im Frühjahr 2001 ein Angebot von Ajax Amsterdam eintrudelte, verhandelte er zunächst für Ibrahimovic über sein Gehalt in den Niederlanden. Erst als dieser bei 20000 Euro Monatslohn und einem Mercedes-Dienstwagen freudestrahlend zusagte, wandte sich Borg an die Ajax-Bosse – und schlug die bislang höchste Transfersumme in der Geschichte des schwedischen Fußballs heraus: 85 Millionen Kronen, rund 10 Millionen Euro.
Wie ein Stück Vieh
Als Ibrahimovic Wind davon bekam, wie weit unter Wert er sich verkauft hatte, zerbrach etwas in ihm. In Hasse Borg hatte er bis dato einen Ersatzvater gesehen. Ausgerechnet er – der leise Schwede – hatte ihn wie ein Stück Vieh verhökert.
Raiola, dem Italiener in den kurzen Hosen, ist es seither gelungen, seinen Klienten zum bestbezahlten Profi der Welt zu machen. Seine Finanzen kennt Ibrahimovic inzwischen auf den Euro genau. Niemand soll ihn je wieder abzocken. Auf die Frage, wie er sich im gehobenen Profialter eigentlich fühle, antwortet er: „Was soll ich sagen: wie 20! Sonst sinkt ja mein Marktwert.“ Der Luxus, den er in vollen Zügen genießt, macht schließlich mordsmäßig Spaß. Er schwärmt für Sportwagen, die Lamborghinis, Ferraris, Porsches – und den „Merc“, den Mercedes SL seiner elf Jahre älteren Frau Helena. Die beiden haben sich über ihre gemeinsame Schwäche für Nobelkarossen kennen und lieben gelernt. Wenn Herr Ibrahimovic romantisch sein will, nennt er Frau Ibrahimovic „meine Superevilbitchdeluxe“ – und zieht dabei die Augenbraue nach oben. Als das Ehepaar im Sommer nach Paris kam, witzelte der Angreifer: „Wir suchen gerade nach einem Haus. Aber wenn wir nichts finden, mein Gott, dann kaufe ich halt einfach das Hotel.“
Zwar sind sich Experten einig, dass er am Ende nicht ganz an die Klasse von Lionel Messi und Cristiano Ronaldo heranreicht. Doch im Gegensatz zu ihnen verfügt er über eine extravagante Aura, die ein Fußballer nicht erlernen kann: Er ist der kompromisslose Gladiator, der im Kampf Mann gegen Mann triumphiert. Daneben wirkt Messi wie eine naive Zaubermaus, und Ronaldo umweht trotz seiner Torquote ohnehin stets ein Hauch von andimöllerscher Wehleidigkeit. Zudem hat „Ibra“ das Selbstbewusstsein, das ihn trotz astronomischer Transfer- und Gehaltssummen nie Druck verspüren lässt. Wenn ihn doch mal der Zweifel befällt, düst er einige Tage mit einem Affenzahn auf dem Schneemobil durch die eisigen Weiten Schwedens, bis der Kopf wieder frei ist. Und sollte es tatsächlich bei einem Klub nicht klappen, sind eben die anderen Schuld. Als Pep Guardiola ihn 2009 beim FC Barcelona zurück ins offensive Mittelfeld beorderte, schnauzte er den Trainer an: „Warum legst du dir einen Ferrari zu, wenn du ihn dann wie einen Fiat behandelst?“
„Ich brauche Action, ich brauche Speed.“
Im Weltfußball, wo die willigen Vollstrecker taktischer Systeme längst in der Überzahl sind, ist „Ibra“ das pure Spektakel. In seiner Biografie schreibt er: „Ich brauche Action, ich brauche Speed.“ Er brüstet sich damit, dass er eine Polizeistreife mit 300 Sachen im Porsche abhängte, als diese ihn wegen überhöhter Geschwindigkeit stoppen wollte. So nimmt es auch nicht Wunder, dass er sich im Rennen um einen Spitzenplatz im Weltsport ganz vorn sieht. „Ich bin der Größte – wie Ali.“ Er überlegt kurz. „Geht das überhaupt? Zwei Größte? Na, gut: Ich bin der Größte – hinter Ali.“
Ibrahimovics aktuelle sportliche Bilanz ist eindrucksvoll. Seit dem Sommer hat er in 29 Spielen 23 Treffer erzielt, mit ihm befindet sich Paris St.Germain erstmals seit 1994 auf Meisterkurs. Zuvor führte er schon Ajax Amsterdam, Juventus Turin, Inter Mailand, den FC Barcelona und den AC Mailand zum nationalen Titel. Zwischen 2004 und 2011 schloss er jede Saison als nationaler Meister ab, sagenhafte acht Mal in Serie (inklusive der später aberkannten Titel von Juve). Erfolg, so heißt es landläufig, könne man nicht kaufen. Aber wer Ibrahimovic verpflichtet, dem gelingt es eben doch. Seine gegnerfressende Spielweise hat ihn sogar im französischen und schwedischen Wörterbuch verewigt. Das Verb „zlatanisieren“ steht dafür, einen Kontrahenten unter reichlich Körpereinsatz, im Idealfall mit einer Prise Artistik, zu Staub zerfallen zu lassen. Und es steht auch für die Unfähigkeit, sich die eigene Niederlage bloß vorzustellen. „Wenn Ibra ein Trainingsspiel verliert, rastet er aus. Da kann man von Glück sagen, wenn man nicht in seinem Team spielt“, sagt Alexander Merkel, ein deutscher Nachwuchsspieler, der gemeinsam mit ihm beim AC Mailand spielte. „Auf dem Platz kann er ein richtiges Arschloch sein, aber das macht ihn eben auch zu diesem außergewöhnlichen Fußballer. Viele Gegenspieler bekommen schon Angst, wenn er nur auf sie zukommt.“
Mitspieler sehen neben ihm aus wie Messdiener
An einem Dienstag Ende Januar 2013, auf dem Zenit seiner Karriere, erscheint der Gott der Angst nun also den Menschen in einem Straßentunnel im Süden von Paris. In einem stillgelegten Teil, den sein Sponsor eigens zu einer Art Batman-Laboratorium hat umbauen lassen, soll er einen neuen Fußballschuh präsentieren. Als dieser Hüne mit dem Astralkörper, der von seiner Entourage ehrfürchtig „the tall guy“ genannt wird, unter ohrenbetäubenden Bassdrum-Schlägen die Bühne betritt, um den Schuh in die Kameras zu halten, steht sein Mannschaftskollege Gregory van der Wiel neben ihm und wirkt wie ein Messdiener, der den Weihrauch in der Sakristei vergessen hat. In den Gesichtern der anwesenden Pressevertreter spiegelt sich eine Faszination wider, als wäre Elvis auferstanden. Sie zücken ihre Fotohandys, um später einmal beweisen zu können, dass sie ihn gesehen haben – IHN!
Spätestens seit seinem Fallrückziehertor im Länderspiel gegen England im November 2012 ist Ibrahimovic endgültig der „King of Football“. Aus 25 Metern Entfernung und zweieinhalb Metern Höhe den Kasten zu treffen, rückwärts und blind – das war in seinem Wahnwitz näher am Stratosphärensprung des Extremsportlers Felix Baumgärtner einen Monat zuvor als an allen Toren, die 2012 irgendwo auf der Welt erzielt wurden. Andere hätten sich allein beim Gedanken an eine solche Aktion den Hals gebrochen. Der Fallrückzieher war das Destillat aller „Ibra“-Tore zuvor – eine Einzelleistung in Reinkultur, ohne vorangegangene Tiki-Taka-Kaskade, außerhalb des Matchplans, von keiner Videoanalyse prophezeit. Eine Feier des individuellen Könnens, ein Hervortreten des Einzelsportlers aus einer Mannschaftssportart. Ein Geniestreich, mit dem Ibrahimovic sich selbst die Krone aufsetzte, die seit der Abdankung des ebenso sinistren Königs Zinedine Zidane im Jahre 2006 vakant war. Und es passt ins Bild, dass Ibrahimovic nur eine Woche zuvor im Ligaspiel gegen den AS St.Etienne sein anderes Gesicht gezeigt hatte, als er Keeper Stéphane Ruffier mit einem beherzten Karatetritt ins Reich der Träume schickte und deshalb für zwei Spiele vom Ligabetrieb ausgeschlossen wurde.
Frankreich liegt dennoch im „Ibra“-Fieber. So sehr, dass sich bei anderen Stars schon Unmut breit macht. Zuletzt machte sich Farid Ben Khalfallah von Girondins Bordeaux Luft. Seit der Schwede über die Liga gekommen sei, hätten die Journalisten kein anderes Thema mehr: „Ich bin es leid, ständig nur von Ibrahimovic zu hören!“, wütete der Tunesier, „es gibt viele gute Spieler in der Ligue 1.“
Nächtelang Ballerspiele
Dabei hat sich Ibrahimovic zuletzt durchaus weiterentwickelt. Die Geburt seiner Kinder hat ihn reifer gemacht. Er fügt sich sogar der Anordnung seiner Frau, die das Spielen auf der Xbox nach 22 Uhr untersagt. Lange Zeit hatte er sich die Nächte mit „Call of Duty“ um die Ohren geschlagen – und war entsprechend übermüdet am nächsten Tag über den Trainingsplatz getrottet.
Was hat er sonst dazu gelernt? „Geduld, Dinge entstehen zu lassen. Geduld, Aufgaben zu lösen. Früher wollte ich alles sofort.“ So gelang ihm das zweifelhafte Kunststück, nach Inter Mailand auch den FC Barcelona just vor der Saison zu verlassen, in der der Klub die Champions League gewann. Ibrahimovic passte bislang nicht ins Korsett eines Systems, er brauchte seine Freiheiten – und nahm sie sich. Wenn nicht beim aktuellen Verein, dann eben woanders. Möglicherweise um den Preis, dass ihm der ganz große Titel dadurch versagt bleibt. Zumal seine Karriereplanung bisher im Einklang mit Mino Raiola streng unter pekuniären Gesichtspunkten verlief. Der Italiener weiß, wie er den Marktwert des Klienten nach oben treibt. Bislang wurden insgesamt 169 Millionen Euro an Transfergeldern für „Ibra“ gezahlt. Mit 31 Jahren bliebe sogar noch Zeit für einen letzten, großen Wechsel. Mino Raiola hätte sicher nichts dagegen.
Plötzlich redet der Solitär von Teamplay
Doch zum ersten Mal sieht es so aus, als würde er bei einem erneuten Weggang etwas aufs Spiel setzen. In Paris scheint er nach einem langen Weg, der ihn aus Rosengard hierher geführt hat, endlich angekommen zu sein. Hier muss er sich den Ruhm nicht mehr mit anderen Superstars teilen. Wenn PSG in der Champions League etwas erreicht, verbuchen die Medien diesen Erfolg fast gänzlich auf sein Konto. Das gibt ihm das erste Mal in seiner Laufbahn die Freiheit, in Interviews auch auf die Leistungen seiner Mitspieler hinzuweisen. Plötzlich redet der Solitär von Teamplay und der Hilfe seiner Kollegen. Was fast so erstaunlich ist, als hätte Muhammad Ali Joe Frazier in der Rundenpause Komplimente für seine Beinarbeit gemacht.
Und noch etwas ist neu: Lange galt er als Schmuddelkind in der schwedischen Nationalelf. Seine ostentative Arroganz schwächte die Anerkennung im Team und in der Öffentlichkeit. Inzwischen jedoch ist „Ibra“ zum Kapitän ernannt worden. Er hat verstanden, dass er nicht mehr nur sportliche Verantwortung trägt, sondern auch soziale: So wie Mesut Özil und Jerome Boateng zu Symbolen geglückter Integration in Deutschland geworden sind, kann er die gesellschaftlichen Schichten seines Landes einander näherbringen. Er, der Sohn von Emigranten aus Ex-Jugoslawien, ein unterprivilegierter Vorortjunge, der zum größten Fußballer in der Geschichte Schwedens aufstieg. Der fightet – für sich, aber auch für andere. Als Star für die ganze Familie könnte Ibrahimovic die andere Hälfte der Fangemeinde, die ihm noch reserviert gegenübersteht, für sich gewinnen. Ein Karriereweg voller durchbrochener Mauern, an dessen Ende ein geläuterter Sünder steht. Der Stoff für die ganz große Hollywood-Schmonzette.
Batman verabschiedet sich
Im Pariser Straßentunnel sitzt der arme Gemüsehändler noch immer in seinem Lieferwagen, den er notdürftig auf den Bordstein bugsiert hat. Was kann er dafür, dass die ganze Stadt durchdreht? Da heult ein Motor auf, die Reifen quietschen: Ein orangefarbener Lamborghini rast vorüber. Am Steuer: Zlatan Ibrahimovic. Er grüßt und grinst. „Ich befinde mich jetzt seit fast 20 Jahren auf diesem Highway und bin von Jahr zu Jahr schneller gefahren“, hat er eben im Blitzlichtgewitter des Batman-Laboratoriums gesagt. „So konnte ich mich an das Tempo gewöhnen. Sie sehen doch: Ich bin ganz ruhig.“ Schließlich weiß er: Sein Kühlschrank wird nie wieder leer sein.
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Der Originaltext erschien im März 2013 und wurde nur geringfügig aktualisiert.
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