
Endlich wieder Bundesliga! Wir freuen uns darauf. Auch, weil dann wieder diese diebischen und (bislang) geheimen Freuden bedient werden. Unsere Bundesliga-Guilty-Pleasures. Hier findet ihr alle Texte der Serie.
Der VfL Wolfsburg und ich sind auf ewig verbunden. Als ich zum ersten Mal in meinem Leben ein Spiel des FC Schalke 04 besucht habe, hieß der Gegner: VfL Wolfsburg. Ich kann mich an viele Details dieses Tages erinnern: An die Straßenbahnfahrt zur Arena, auf der mir ein Freund meines Vaters einen Schalke-Weihnachtsmann schenkte (das Spiel fand an einem Mittwoch eine Woche vor Heiligabend statt). An die Rückfahrt mit der Straßenbahn, auf der ein Kuttenpapa seinem Kuttensohn einbläute: „Sachse aber nich der Mama, dat ich dir heute n Bier gegeben hab, ne?“ Vom Spiel selbst weiß ich nichts mehr.
Dass Hamit Altintop traf, musste ich googeln, dabei war der damals sogar mein Lieblingsspieler. Was sich mir hingegen bis heute eingebrannt hat, ist die Darbietung eines Fans vom VfL Wolfsburg. Weil sich unsere Plätze in der Nähe des Gästeblocks befanden, hatte ich das Vergnügen, ihn während der Halbzeitpause am Bierstand ausführlich beobachten zu können. Auch bei ihm handelte es sich um einen Kuttenträger. Bereits ordentlich angeschossen ließ er sich am Bierstand von der sichtlich irritierten Verkäuferin einen leeren Becher reichen, um diesen am Bratwurststand vermittels ausdauernder Pumpstöße mit Ketchup aus dem Spender zu füllen. Sodann legte er den Kopf in den Nacken, setzte den Becher an und ließ die zähflüssige rote Pampe in seine Kehle, vor allem aber über seine Jeanskutte laufen.
Die wohltuende Mittelmäßigkeit der Dinge
In was für eine herrlich beschmierte Welt war ich denn da hineingeraten? Vielleicht habe ich dank dieses Schauspiels eine kleine Schwäche für jenen Verein, der für viele der Inbegriff des seelenlosen Werksklubs ist. Vielleicht bin ich aber auch deshalb etwas gnädiger mit den Wölfen als der gemeine traditionsbewusste Fußballfan, weil mich der VfL Wolfsburg auf angenehme Art und Weise daran erinnert, wie wohltuend die Mittelmäßigkeit der Dinge sein kann.
Denn es ist ja so: Trotz aller Erfolge, trotz Magaths Meisterstück von 2009, trotz pausbäckigem Pokalsieger-HecKING von 2015, trotz Vizemeisterschaft 2016 und Champions-League-Abenden gegen Real Madrid: Mit der wunderbaren Verlässlichkeit eines Schichtarbeiters, der stets pünktlich zu seinem Job am Band im VW-Werk erscheint, fällt der VfL Wolfsburg ins Mittelmaß der Liga zurück.
Der Trottel mit dem Regenschirm
Dabei haben sie in Wolfsburg einiges dafür getan, auch ein bisschen vom Glamour der großen Fußballwelt abzubekommen. Sie haben Marcelinho verpflichtet und Diego, Julian Draxler und Stefan Effenberg, sogar Nicklas Bendtner. Nicklas Bendtner! Wenn das kein verzweifelter Schrei nach Aufmerksamkeit war, was denn dann? Sie haben es mit Mark van Bommel auf der Trainerbank versucht und mit Steve McClaren. Steve McClaren! Versuchen Sie mal, den Namen zu lesen, ohne dass Ihnen der Zusatz „Der Trottel mit dem Regenschirm“ in den Kopf schießt. Sehen Sie? Auch dieser Move also nichts anderes als Schlagzeilensehnsucht.
Doch das Schöne: Trotz dieser Versuche sind es andere Namen, die für mich den VfL Wolfsburg verkörpern. Es sind Namen, die nicht für Glamour und Glitzer stehen. Es sind Stefan Schnoor und Roy Präger. Martin Petrov, natürlich in Kurzarmtrikot und Handschuhen. Da sind Alexander Madlung und Timm Klose. Peter Pekarik und Patrick Ochs. Ivica Olic und Mario Mandzukic. Cedric Makiadi und Miroslav Karhan. Ehrliche Arbeiter! Da sind Sascha Riether und Marcel Schäfer (ein Facharbeiter-Kraftriegel auf meinen Nacken für alle, die die beiden auseinanderhalten können). Und natürlich ist da auch Maxi Arnold, der vielleicht älteste 28-Jährige der Welt. Ehrlich: Wenn mir jemand erzählen würde, Maxi Arnold hätte schon Anfang der Zweitausender neben Pablo Thiam die Fäden im Wolfsburger Mittelfeld gezogen, ich würde es ihm abkaufen.
Es menschelt am Mittelmaßkanal
Apropos abkaufen: Ja, der VfL Wolfsburg spielt nur dank der Kohle von VW in der Bundesliga. Ja, der Mittellandkanal macht seit 2001 mit freundlicher Genehmigung der DFL einen großen Bogen um die 50+1‑Regel. Ja, die Lichtshow nach Toren in der Volkswagen Arena hat mit gewachsener Fußballkultur nur bedingt zu tun und überhaupt, echte Fußballromantik gibt es vielleicht höchstens in Form von ein paar Ketchup-besudelten Kutten. Und dennoch: Wolfsburg ist nicht Leipzig!
Das ist nicht nur eine geographische Tatsache, sondern lässt sich auch inhaltlich begründen. Denn während sie in Leipzig die Brausemillionen mit eiskaltem Kalkül darauf verwenden, klinisch gezüchtete Nachwuchsfußballmaschinen aus dem RB-Kosmos an ihren Standort abzukommandieren und mit ihnen dann den DFB-Pokal zu entweihen oder sie gewinnbringend weiterzuveräußern, schaffen sie es in Wolfsburg immer wieder, trotz Automillionen abzurutschen, mal ins Tabellenniemandsland, mal sogar bis in die Relegation. Das verleiht der genehmigten 50+1‑Ausnahme aus Niedersachsen ein deutlich menschlicheres Antlitz als der ungenehmigten 50+1‑Ausnahme aus Österreich.
1997 ist der VfL Wolfsburg von Volkswagen finanziert in die Bundesliga aufgestiegen. Seit Anfang der Zweitausender interessiere ich mich ernsthaft für Fußball. Ich kenne keine Bundesliga ohne den Klub vom Mittelmaßkanal. Er ist immer da. Und das ist okay.
ncG1vNJzZmhpYZu%2FpsHNnZxnnJVkrrPAyKScpWeRonqutdOtnKWlkajArK3NmqNob2hlgHOCmA%3D%3D